Hauptinhalt

Inklusive Arbeitswelt

Ausgewählt statt aussortiert

„So ein Interview, das ist schon eine Herausforderung für mich“, sagt Peter Göttlich, als wir uns für das Gespräch in einen ruhigen Raum zurückziehen. Und ergänzt schmunzelnd: „Mit fremden Menschen reden ist nicht gerade meine Stärke.“ Damit die ungewohnte Situation ihn nicht zu sehr unter Stress setzt, hat der 40-Jährige sich sorgfältig auf die Fragen vorbereitet. Und so erzählt Peter Göttlich dann ziemlich souverän seine Geschichte – und wie gut es tut, als Autist im Job nicht wegen seiner Eigenheiten abgelehnt, sondern für seine Stärken anerkannt zu werden.

Porträtfoto: Peter Göttlich.

Hier waren wir zu Besuch

Eingangstür aus Glas, darauf der Schriftzug „auticon“.

Am auticon Standort München symbolisiert schon das Logo an der Eingangstür klare Strukturen, Transparenz und Aufgeschlossenheit. Die auticon GmbH ist eine IT-Consulting-Firma der besonderen Art. Ansporn und Inspiration für Firmen­gründer Dirk Müller-Remus war sein eigener Sohn – denn der ist Autist. Als der Vater herausfand, dass nur etwa 15 bis 20 Prozent der Menschen im Autismus-Spektrum im ersten Arbeitsmarkt beschäftigt sind, gründete er 2011 auticon.

auticon profitiert ganz bewusst von den Stärken von Menschen aus dem Autismus-Spektrum. Als IT-Consultants arbeiten in München und auch an allen anderen Standorten ausschließlich Menschen mit Autismus. Das sind rund 70 Prozent der Beschäftigten. Das Ziel: keine „Behindertenwerkstatt“, sondern ein konkurrenzfähiges, gewinn- und wachstumsorientiertes Wirtschaftsunternehmen für IT-Dienstleistungen. Mittlerweile hat auticon weltweit in acht Ländern insgesamt 18 Niederlassungen, sechs davon in Deutschland. Alle Beschäftigten mit Autismus sind festangestellt und bekommen marktübliche Gehälter.

Berufsstart mit Hindernissen

Schon während seines Physikstudiums entdeckte Peter Göttlich sein Talent für Computertechnologie, fürs akribische Programmieren, fürs Hineintüfteln in komplexe Systeme. Doch dass er zwischenmenschlich anders ist als seine Kolleginnen und Kollegen, das wurde bei seinen ersten Arbeitsstellen schnell offensichtlich: „Mir fiel es unheimlich schwer, auf die anderen zuzugehen – um fachliche Dinge zu besprechen oder auch nur für Smalltalk in der Küche“, erzählt Göttlich rückblickend. „Meistens wollte ich auch mit Teammeetings und Kundenkontakt am liebsten gar nichts zu tun haben. Sondern einfach nur in Ruhe arbeiten.“ Seine Chefs fanden sein Rückzugsbedürfnis seltsam und seine Schweigsamkeit hinderlich für die Arbeitsabläufe. Ebenso, dass ihn Reize wie laute Stimmen, Geräusche und helles Licht so stark unter Stress setzten. Weil ihm wegen dieser vermeintlichen Schwächen – fehlender sozialer Kompetenz und fehlender Belastbarkeit – mehrmals nacheinander gekündigt wurde, suchte Göttlich Rat bei einem Psychiater. Und dieser konnte seinen Eigenheiten schließlich einen Namen geben: Autismus.

Peter Göttlich in einem Raum, in dem nur ein Stuhl und ein Tisch stehen.

Peter Göttlich ist Autist. Seit rund vier Jahren arbeitet er erfolgreich als IT-Consultant bei der Firma auticon in München. Ein Grund, warum er sich hier wohlfühlt: „Am besten konzentrieren kann ich mich in einem sehr aufgeräumten, reizarmen, ruhigen Zimmer. Mein Arbeitgeber weiß das und schafft mir dieses Umfeld.“

Zum ersten Mal muss ich meinen Autismus nicht erklären. Ich kann sein, wie ich bin und zeigen, was ich kann – und werde dafür wertgeschätzt.

Stärken im Fokus

Autismus und ein Talent für IT – mit dieser Kombination stieß Peter Göttlich bei der erneuten Jobsuche schnell auf die Firma auticon. Das Unternehmen stellt ganz bewusst Autistinnen und Autisten als IT-Consultants ein. Rund 70 Prozent der auticon-Belegschaft sind Menschen im Autismus-Spektrum. Man spricht von einem Spektrum, weil kein Mensch mit Autismus dem anderen gleicht und die Merkmale oft ganz unterschiedlich stark ausgeprägt sind. „Hier bei auticon bin ich plötzlich nicht mehr der seltsame Außenseiter, hier sind wir in der Überzahl“, erzählt Göttlich grinsend. Dahinter steckt eine Unternehmensphilosophie, die Inklusion zum Wettbewerbsvorteil macht. „Viele Menschen im Autismus-Spektrum haben kognitive Fähigkeiten, die für Entwicklungen und Problemlösungen im IT-Bereich sehr nützlich sind und mit denen sie andere ITler überflügeln“, erklärt Dieter Hahn, Geschäftsführer von auticon Deutschland, Region Süd. Häufig besonders stark ausgeprägt sind zum Beispiel: logisches Denkvermögen, Qualitätsbewusstsein, Gründlichkeit, Blick für Details, Muster und Fehler, Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer auch bei Routineaufgaben sowie absolute Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit.

Autismus und das Autismus-Spektrum

Autismus ist aus medizinischer Sicht eine tief greifende kognitive Entwicklungsstörung. Sie zeigt sich in einer anderen Art, die Welt wahrzunehmen und in ihr zu handeln. Autismus ist angeboren und beeinflusst die Informationsverarbeitung, die Sinneswahrnehmung, die geistigen Fähigkeiten und die Gefühle einer Person – und damit auch das soziale Verhalten und die Kommunikation. Da sich Autismus in sehr unterschiedlichen Formen und Ausprägungen zeigen kann, spricht man von Menschen im Autismus-Spektrum: Einige Betroffene fallen z. B. in allen Bereichen als „anders“ auf, andere nur in einem. Einige werden schon in ihrer Kindheit diagnostiziert, andere erst im Erwachsenenalter. Schätzungen der UNO zufolge gibt es weltweit ca. 67 Millionen Menschen im Autismus-Spektrum – das heißt, etwa einer von 100 lebt mit dieser Besonderheit.

Das ideale Arbeitsumfeld

Porträtfoto: Ramona Öller.

Ramona Öller ist Talent Acquisition Managerin bei auticon am Standort München. Das heißt: Sie ist verantwortlich für den Bewerbungsprozess und die Gewinnung neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Zuvor unterstützte Öller die autistischen Beschäftigten dreieinhalb Jahre lang als Job-Coach.

„Damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Autismus ihre Talente auch voll ausspielen können, bekommen sie unsere volle Unterstützung“, erklärt Ramona Öller. Die 30-Jährige ist als Talent Acquisition Managerin bei auticon für die Auswahl neuer Angestellter aus dem Autismus-Spektrum zuständig. Die Unterstützung betrifft bei auticon zum einen das reiz- und stressarme Arbeitsumfeld: In allen Fluren und Räumen ist es sehr ruhig und sehr aufgeräumt, überall liegen schalldämpfende Teppiche. Maximal zwei Personen teilen sich ein Büro. Außerdem gibt es einen Ruheraum, u. a. mit einer Anti-Stress-Decke. Diese Decke wiegt rund sieben Kilogramm. Wickelt man sich in ihr ein, verteilt sich ihr Gewicht gleichmäßig auf dem gesamten Körper – und das fühlt sich an wie eine Umarmung. Für viele Autisten wirkt die Decke deshalb entspannend und stresslindernd.

Nahaufnahme: Türschild mit der Aufschrift: „Ruheraum. Vor Betreten bitte anklopfen.“

Fühlt sich eine Autistin oder ein Autist bei auticon gestresst oder reizüberflutet, dient der Ruheraum als Rückzugsort. In dem Raum steht nur ein Entspannungssessel. Zudem ist er bewusst reizarm gehalten: ohne Bilder, Pflanzen oder sonstige Gegenstände, dafür mit schalldämpfendem Teppich und dimmbarem Licht.

Sehr aufgeräumter Gemeinschaftsraum mit leerem Holztisch, Stühlen, Sofa und Wandbildern.

Auch der große Gemeinschaftsraum bei auticon ist bewusst sehr aufgeräumt. Hier können die autistischen IT-Consultants mit Kolleginnen und Kollegen mittagessen. Aber: Wer seine Pause lieber allein verbringen will, tut das – und wird dafür nicht als „seltsamer Eigenbrötler“ beurteilt.

Der Job-Coach: Unterstützung für beide Seiten

„Für alle weiteren möglichen Störfaktoren sind die Job-Coaches permanente Ansprechpartner und Vertrauenspersonen“, erklärt Öller. Diese Coaches nehmen den IT-Consultants alle Tätigkeiten ab, die ihnen wegen ihres Autismus schwerfallen. „Ziel ist, dass sich unsere Consultants ohne Stressquellen und Ablenkungen ganz auf ihre Arbeit konzentrieren können“, so Öller. Konkret heißt das: Die Job-Coaches übernehmen alle organisatorischen Tätigkeiten rund um das Projekt – von Kundentelefonaten bis Reisekostenabrechnung. Zudem sind sie eine wichtige Schnittstelle, wenn die IT-Fachleute extern direkt bei Kunden arbeiten. „Die Job-Coaches bereiten das dortige Team auf die Zusammenarbeit mit Autisten vor und stehen das gesamte Projekt über für beide Seiten unterstützend zur Seite“, erklärt Öller. Und: Sie achten darauf, dass für die IT-Consultants mit Autismus keine unnötigen Stresssituationen entstehen, etwa durch kurzfristige Deadlines oder unklare Kommunikation.

„Ich habe die Chance bekommen, am ersten Arbeitsmarkt vollwertige Leistung abzuliefern. Das ist ein großer Schub für mein Selbstbewusstsein.“

Lernen von Menschen mit Autismus: klare Kommunikation

Tatsächlich ist die Kommunikation oft ein Punkt, bei der Kolleginnen und Kollegen ebenso wie Vorgesetzte von Autisten lernen können. „Wenn jemand mit mir spricht, gilt: je strukturierter, desto besser“, erklärt Peter Göttlich. „Ich brauche klare Anweisungen, Ziele und Prioritäten, damit ich nicht darüber nachdenken muss, warum ich was genau in welcher Reihenfolge tun muss. Schwammige Formulierungen stressen und blockieren mich.“ Von diesem Mehr an Struktur und eindeutiger Kommunikation profitiert in der Regel jedes Team und Projekt. „Ich achte zum Beispiel mittlerweile bewusst darauf, nicht auf die Schnelle drei Fragen in einem Satz aneinanderzureihen“, sagt Ramona Öller. Weiterer Lerneffekt in vielen Unternehmen: in Teammeetings unstrukturierte Diskussionen schneller ausbremsen. Und: Kritik oder Fehler direkt und sachlich ansprechen, negative Gefühle und Schuldzuweisungen rauslassen, auf die Problemlösung konzentrieren – und auch nicht konfliktscheu um den heißen Brei herumreden.

Inklusion und Wettbewerbsfähigkeit schließen sich nicht aus

Porträtfoto: Dieter Hahn.

Dieter Hahn ist Geschäftsführer bei der IT-Firma auticon GmbH und verantwortlich für die Region Süd. Er betrachtet Autistinnen und Autisten in der IT-Branche als klaren Wettbewerbsvorteil.

Geschäftsführer Dieter Hahn sieht in der Unternehmensphilosophie von auticon ein Erfolgsmodell, das anderen Arbeitgebern Skepsis nehmen und Mut machen soll: „Inklusion und Wettbewerbsfähigkeit schließen sich nicht aus. Für uns ist das eine Win-win-Situation, weil beide Seiten profitieren: Einige unserer autistischen Mitarbeiter sind durch ihre Stelle hier zum ersten Mal finanziell unabhängig und fast alle erfahren eine bisher nicht erlebte Wertschätzung ihrer Arbeit und ihrer Person. Und wir als Unternehmen gewinnen außergewöhnliche Talente, besondere Leistungen und neue Perspektiven.“ Außerdem wüssten viele Unternehmen gar nichts von der breiten finanziellen und beratenden Unterstützung, die sie in Anspruch nehmen können, wenn sie Menschen mit Behinderung einstellen möchten, betont Geschäftsführer Hahn. „Unsere Job-Coaches zum Beispiel werden vom Inklusionsamt gefördert und sind ein wichtiger Baustein dafür, dass das auticon-Geschäftsmodell funktioniert.“

Mit einem weiteren Vorurteil möchte Peter Göttlich am Schluss auch noch aufräumen: „Es heißt ja immer, Autisten hätten keine Gefühle. Das stimmt aber nicht. Wir gehen nur anders damit um. Ich habe selbst gedacht, dass ich vielleicht keine Beziehung führen kann. Aber mittlerweile bin ich glücklich verheiratet: mit einer sehr aufgeschlossenen und einfühlsamen Nicht-Autistin.“

Hintergrund: das Inklusionsamt

Das Inklusionsamt ist die offizielle Kontaktstelle für Unternehmen, die Menschen mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen einstellen möchten oder es bereits tun. Ebenso können sich Beschäftigte oder Arbeitsuchende mit Behinderung an das Inklusionsamt wenden. Beide Seiten erhalten die bestmögliche Information, Beratung und Unterstützung. Das Ziel aller bayernweiten Inklusionsämter: neue Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung zu schaffen – und solche zu sichern, die bereits bestehen.